Bei der Arbeit an dem Charakter von Bazarow hat Turgenev ein Ausgangspunkt aus dem wirklichen Leben gebraucht, um seiner Gestalt eine gewisse Wahrhaftigkeit zu geben. Er musste diese Person mit den Augen eines Dichters sehen und spüren. J. Nikolski in seinem Buch „Turgenev und Dostojewski“[7] führte folgenden Hinweis von Turgenev über Bazarow an: “Я однажды прогуливался и думал о смерти…Вслед затем предо мной возникла картина умирающего человека. Это был Базаров. Сцена произвела на меня сильное впечатление и затем начали развиваться oстальные действующие лица и само действие.“ Turgenev sah Bazarow als realen Menschen und schaute die Welt aus seinen Augen an. Eine obligatorische Bedingung für den Autor war „наличие живого лица“. Über den Prototypen von Bazarow schreibt Turgenev folgendes: „В основание главнй фигуы, Базрова, легла одна поразившая меня личность одного молодого провинцального врача. (Oн умер незадолго до 1860 годa.) В этом замечательном человеке (TurgenevnenntihnDoktorD.) воплотилось […] то едва народившееся, еще бродившее начало, которое потом получило название нигилизма“.[8]A. I. Polovcev schreibt in seinen Erinnerungen, dass der von Turgenev genannte Arzt ein Bekannter von Turgenev Dmitriev war. Er fügt die von Turgenev gegebene Erklärung hinzu: “Без уездного врача Дмитриева не было бы Базарова. Я ехал из Петербурга в Москву во втором классе. Oн сидел против меня. Говорили мы мало, о пустяках. […] Eго мало интересовало, кто я, да и вообще литература. Меня празила в нём базаровская манера, и я стал всюду приглядываться к этому нарождающемуся типу“[9].
Ein Zeitgenosse von Turgenev, N. M. Černov, studierte mehrere Archive mit Unterlagen, die über die Verbindung von Turgenev mit der nichtadeligen Jugend der Orlovskaja Gubernija in den 50-60er Jahren berichten. In Folge dessen stellte Černov eine neue Hypothese über den Prototypen von Bazarow dar: der Landgutsnachbar von Turgenev war ein junger provinzieller Arzt, den Bruder eines bekannten Folkloristen, Ethnographen und Schriftstellers, P. I. Jakuškin, Viktor Ivanovič Jakuškin. Er studierte an der Petersburger Medizinisch-Chirurgischen Akademie und war bekannt als „рассадник и колыбель нигилизма“. Seine Mutter war eine Leibeigene und der Vater ein Gutsbesitzer. Nach dem Ende seines Studiums arbeitete Jakuškin als Militärarzt und dann als Landesarzt in Petersburg. Er beschäftigte sich mit wissenschaftlichen Tätigkeiten, hatte demokratische Ansichten und war in engem Kontakt mit V. Kuročkin, G. Uspenski, A. Benni und A. Nečiporenko, was seine Verbindung zu der führenden gesellschaftlichen Ideenströmung der damaligen Zeit belegte. Der Freundeskreis von Jakuškin und sein Gesellschaftsbild, was ihn als einen Verbreiter von Nihilismus, „возбудитель спокойствия“ und einen Agitator darstellte, weisen auf mehrere Charakterzüge von Bazarow hin.[10]
Was den Familiennamen „Bazarow“ betrifft, wurde sein Name in der Geschichte der russischen Literatur öfters als Gattungsname benutzt. Einerseits hing dies mit der philosophischen Problematik des Romans und dem dargestellten aktuellen Thema Nihilismus in Bazarows Charakter zusammen. A. Herzen und I. Pisarev nannten das dargestellte Nihilismus-Phänomen „базаровщина“ – „eine Krankheit unserer Zeit“.[11]
Andererseits greift die Tradition von „говорящие фамилии“ in der russischen Literatur noch in die Zeiten von Gogol zurück. Man könnte annehmen, dass seit der ersten Bekanntschaft der Leser mit Bazarow sein Familienname den Anfang für die Charakteristik seiner Person legt. Vom russischen Wort „базар“ (Markt, Basar, Spektakel) abgeleitet, assoziiert sich der Name mit einem lauten bunten Durcheinander, was dem russischen „базар“ zugrunde liegt, und auch mit einer lauten pausenlosen Unterhaltung mehrerer Menschen, die in der Regel keinen Sinn enthält. „Говорящая фамилия“ Bazarow klingt aufreizend und sogar vulgär (eine umgangssprachliche Nutzung des Verbes „базарить“ – bedeutet: frech und vulgär sich unterhalten) und gibt Bazarow noch am Anfang die Charakteristik einer außergewöhnlichen und „Lärm machenden“ Person.
Die Ideenwelt der neuen nichtadeligen Generation, wie es oben schon erwähnt wurde, ist im Roman durch Bazarows Person dargestellt worden. Diese Darstellung beschreibt der Autor durch einen dramatischen Zusammenstoß von Bazarow mit den anderen Romancharakteren. Im Laufe des Romans erlebte Bazarow mehrere Schicksalsschläge, was zu einer starken Loyalität seiner Lebensüberzeugungen führte. In der zweiten Hälfte des Romans erfüllte ihn Turgenev mit tiefem Pessimismus und Skepsis.
In der folgenden Analyse von Turgenevs Handschrift stelle ich diese Evolution von Bazarows Charakter genauer dar.
Die erste Bekanntschaft der Leser mit Bazarow folgt im zweiten Kapitel. Als Arkadi Kirsanow mit seinem neuen Freund und Mentor Bazarow an dem Gasthof ankam, stellte Arkadi ihn zuerst seinem Vater Nikolai Kirsanow und dessen Verwalter Pĕtr vor. Der Autor beschreibt zudem die äußere Erscheinung von Bazarow: „Длинное и худое [лицо], с широким лбом, кверху плоским, книзу заострённым носом, большими зеленоватыми глазами и висячими бакенбардами песочного цвета, oно оживлялось улыбкой и выражало самоуверенность и ум.“ Seine Hand zur Begrüßung gab er Nikolai nicht sofort. Bazarows Verhalten scheint sehr lässig und ungeniert zu sein. „ Евгений Васильев,- отвечал Базаров ленивым, но мужественным голосом“. Er machte den starken Eindruck eines Menschen, der sich überall sehr wohl zu fühlen schien, nicht allzu sprechlustig war und mit den Leuten der Dienerklasse immer auf einem familiären und freundschaftlichen Niveau blieb („Ну, поворачивайся, толстбородый! – обратился Базаров к ямщику.)
Im dritten Kapitel, während der Fahrt nach Marjino, zündete sich Bazarow völlig rücksichtslos eine Zigarre an. Das bewies noch Mal seine Einstellung, dass die Meinung von den anderen (in dem Fall - vom älteren Nikolai Kirsanow, dem allerdings keine Zigarre angeboten wurde!) ihm ganz egal war. Es passierte gerade an dem Zeitpunkt, als Nikolai, der mit den fröhlichen und romantischen Gefühlen überfüllt war (welche mit dem Ankommen von seinem Sohn verbunden waren), ein Gedicht von Puškin aufsagte. Bazarows Unterbrechung erschien absolut unakzeptabel und frech. Auf das Thema von Bazarows Einstellung zu Kunst komme ich an einer anderen Stelle zu sprechen.
Eine spektakuläre Szene stellt Bazarows Bekanntschaft mit Pavel Petrovič, seinem zukünftigen Ideenfeind und Objekt der Verabscheuung, dar. Mit seinen feinen aristokratischen Manieren und einem großtuerischen (für Bazarow auch angeberischen) Verhalten, wird Pavel Petrovič von Bazarow heimlich verspottet und verabscheut. Bazarow akzeptierte weder die liberalen Prinzipien und Ansichten in Bezug auf die Öffentlichkeit, noch die scholastische Mentalität und die Lebensgrundsätze der Liberalen.
Nach dem kalten „Добро пожаловать“ und dem trockenen, auf englische Weise, „shake hands“, machte Pavel Petrovič eine Bemerkung (schon unter vier Augen mit seinem Bruder Nikolai), dass Arkadi „s’est degourdi“ (vermutlich bezog sich seine Bemerkung mehr auf Arkadis Freund). In Bazarows Anwesenheit wies Pavel Petrovič eine hohe Nervosität auf und schien sehr unzufrieden damit zu sein, dass „этот волосатый“ (Bazarow) eine Weile zu Besuch bleiben würde. Auch Bazarow bezeichnete Pavel Petrovič sofort als „чудаковат“ und seine Manieren als „архаическое явление“, äußerte Spott über sein Aussehen, mit welchem „пленять-то, жаль, некого!“ und fasste das Ganze als lustig zusammen.
Nach der ersten äußeren und flüchtigen Bekanntschaft mit dem liberalen Pavel Petrovič stellte Bazarow im 5. Kapitel auch sein Ideenkonzept der Familie Kirsanow dar. Am nächsten Tag, während die Familie auf Bazarow am Frühstückstisch wartete, erkundigte sich Pavel Petrovič bei Arkadi über das Wesen von seinem Freund. Voll Begeisterung teilte Arkadi mit, dass Bazarow ein Nihilist sei, was die Brüder Kirsanow ziemlich aus der Fassung brachte. ZudemgesagtenfolgteaucheineErklärungvonArkadi, dass „нигилист – это человек, который не склоняется ни пред какими авторитетами, который не принимает ни один принцип на веру, каким бы уважением не пользовался этот принцип“. Erfügteauchhinzu, dass „иному от этого хорошо, а иному очень дурно“. Pavel Petrovič, der mehr über die Nihilisten informiert war als sein Bruder, schien nach dem Gesagten sehr nervös und gereizt zu sein. Ermeinte, dass „для людей старого века“ wieer, „без принципов ни шагу ступить, ни дохнуть“. Er reimte das Wort Nihilist mit „гегелист“ und äußerte höchste Spannung darüber, wie die Nihilisten in der Zukunft „в пустоте и безвоздушном пространстве“ existieren würden.
Mit ziemlicher Verspätung zum Frühstück (am frühen Morgen begab sich Bazarow auf einen kleinen Spaziergang um die Gegend von Marjino auszukundschaften und für seine anatomischen Experimente, die allerdings durch die „Väter“ verspottet wurden, ein Paar lebendige Frösche zu fangen), erschien Bazarow völlig verschmutzt am Frühstückstisch. Sein Erscheinen wurde mit Spott des äußerst gereizten Pavel Petrovič mit „вот и господин нигилист“ angekündigt. Im weiteren Gespräch redete Bazarow ziemlich stolz und selbstsicher über seine nihilistischen Überzeugungen. Seine freche Haltung und Redeweise empörte und beleidigte zutiefst „высоко аристократическую натуру Павла Петровича“. „Этот лекарский сын не только не робел, oн даже отвечал отрывисто и неохотно, и в звуке его голоса было что-то грубое, почти дерзкое”. Im Laufe der Diskussion erklärte Bazarow, das er sich mit Physik und allgemein mit Naturwissenschaften beschäftigte, im Grunde aber an keine Wissenschaft glaubte sowie keinen Wissenschaftlern (weder russischen noch deutschen) vertraute. („Да зачем же я буду их признавать? И чему я буду верить? Мне скажут дело, я соглашаюсь, вот и всё.“) Er meinte auch, wenn man schon darüber redete, dass ein anständiger Physiker viel wertvoller als ein Dichter sei. Ansonsten akzeptiere er selbst keine Lehre und keine Kunst. (“Естьнаукикакремесла, знания, a наукавообщенесуществуетвовсе.“) Diese Aussage beweist den reinen Opportunismus von Bazarow, im Sinne von seiner überzeugend praktischen und zweckmäßigen Lebenssicht.
Zum Schluss der Diskussion wirkte Pavel Petrovič tief beleidigt und aufgelöst. Der Sinn des Gesagten von Bazarow war, dass das, was die Generation von den „Vätern“ je gelernt und verehrt hat, die Generation von Bazarow als zwecklos, altmodisch und scholastisch darstellte. Alle Werte, die seit Zeiten für ihn und seinen Bruder Nikolai existierten, wurden als „вздор“ bezeichnet (nach den Worten von Pavel Petrovič selbst). In dem Gesagten sah er auch eine persönliche Note. Nichts konnte für einen aristokratischen “Löwen“ wie Pavel Petrovič so niederwertig und abschätzend sein, als in den Augen von „провинциального лекарского сына“ als „oтсталый колпак“ aufzutreten.
Die Weltanschauung der nichtadeligen Generation der 50-60er Jahre des 19. Jahrhunderts sowie die Generation der Materialisten und Nihilisten entsprachen im Wesentlichen den Äußerungen von Bazarow. Eine starke, kompromisslose Verneinung von allen früher existierenden Formen und Errichtungen war auch für Büchners, Moleschots und Vogts vulgärmaterialistische Philosophie sehr charakteristisch. Carl Vogt schrieb in der Einleitung zu seinen „Physiologischen Briefen“ folgendes: „Die Autoritäten haben nicht mehr das Gewicht wie früher; eine Thatsache gilt heut zu Tage nicht deßhalb, weil sie von diesem oder jenem Forscher ist aufgefunden worden, sondern darum weil sie wahr ist.“[12] Büchner äußerte sich genauso deutlich in Bezug auf die Naturwissenschaften, denen „jede Art von Autoritätsglauben“ fremd sei. Černyševski und Pisarev waren in Russland ebenso beschuldigt worden, „oтрицание авторитетов“ auszuüben. Dasselbe sagte auch Bazarow, als ein großer Anhänger der materialistischen Theorie: „В теперешнее время полезней всего отрицание – мы отрицаем. – Всё? - Всё.“ (10. Kapitel). Zu Bazarows Negationstheorie gehörte auch die missbilligende Sicht auf die Aristokratie. Speziell die allgemeine Ignoranz, die konservative Einstellung und auch das Benebeln des einfachen Volkes durch die Nichtaufklärung des herrschenden Aberglaubens und des Unwissens, unterstellte Bazarow den Aristokraten.
Das Gesamte bildet ein strenges System, das sämtliche Ansichten der vulgärmaterialistischen Philosophie von Büchner als auch der dialektisch-materialistischen Theorie von Černyševski in sich aufgenommen hatte. Dieser Hybrid von materialistischen und nihilistischen Theorien entsprach der Weltanschauung vieler studentischer Naturwissenschaftler und auch der von Bazarow. Sie negierten alles was sie als veraltet und „nutzlos“ fanden. Eine überzeugend opportunistisch-praktische Lebenssicht setzten sie an die erste Stelle.
Die Verneinung war kein zufälliges Merkmal an Bazarows Charakter. Der Grund, wofür er das ganze System der gesellschaftlichen Errichtung verneinte, war die Nützlichkeit. In diesem Punkt folgt Bazarow der utilitaristischen Theorie. „Mыдействуемвсилутого, чтопризнаёмполезным“ – sagte Bazarow im 10. KapitelinderweiterenDiskussionmitPavelPetrovič. „Aристократизм, либерализм, прогресс, принципы (…) – подумаешь сколько иностранных … и бесполезных слов! Русскому человеку они даром не нужны.“; „Да начто нам эта логика? Мы и без неё обходимся.“ In der weiteren Diskussion wies er auch auf sein Ziel der Negierung hin: „Строить – не наше дело. Сперва надо место расчистить“. Die Aussage, dass eine Negierung der Gesetze kein aufbauendes Ziel hat („не строить“, sondern erst den Platz frei machen) zeigt den Unterschied zu den klassischen deutschen Nihilisten. Die deutsche nihilistische Schule (insbesondere die Arbeiten von F. Nietzsche und A. Schopenhauer), welche eine allgemeine Negierung als Grundlage ihrer Lehre hatte, verfolgte mit ihrer Theorie folgendes Ziel: die Abkehr von den alten Regeln und Prinzipien um etwas Neues und Aktuelles an ihrer Stelle aufbauen zu können. Friedrich Nietzsche kritisierte in seinen Werken Moral, Religion, Philosophie, Wissenschaft und alle Formen der Kunst. Als den einzigen „anständigen Typus in der Geschichte der Philosophie“ akzeptierte Nietzsche nur die Skeptiker. Besondere Kritik übte er in seinen Werken an der christlichen Moral, die er als abendländisch und zurückgeblieben bezeichnete. Seiner Ansicht nach sollte man auf einen veralteten und lächerlichen Glauben verzichten, um eine neue „Religion“, die im Grunde rein atheistisch ist, aufzubauen. „Ich kenne den Atheismus durchaus nicht als Ergebniss, noch weniger als Ereigniss: er versteht sich bei mir aus Instinkt. Ich bin zu neugierig(…), um mir eine faustgrobe Antwort gefallen zu lassen. Gott ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelicatesse gegen uns Denker –, im Grunde sogar bloss ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken! …“[13] Nietzsche bezog sich in seinen Werken auch auf eine Verabsolutierung der Negation – eine rein theoretische, aber ziemlich radikale Verneinung einer natürlichen Weltgewissheit, infolgedessen ein offenes und ein inhaltsleeres Bewusstsein entsteht. In diesem Bereich unterschied sich seine Theorie von den Überzeugungen von Bazarow, da Bazarows Negierung eine praktisch-opportunistische Richtung annahm.